Civibus Aevi Futuri
"Den Bürgern der kommenden Zeit" steht seit zweihundert Jahren über der Eingangstür des alten Gymnasiums, darunter in römischen Ziffern die Jahreszahl 1790. Die Bedeutung der Schule sollte in einer treffenden Inschrift zum Ausdruck kommen. So folgte man dem Vorschlag des preußischen Staatsministers von Voß, der sich große Verdienste erworben hatte um die Einrichtung des ersten großen öffentlichen Gebäudes, das aus dem Schutt entstand (Elß). Das Rathaus wurde erst von 1800 bis 1804 erbaut, die Kirche von 1805 bis 1806. Minister von Voß hatte sich mit Erfolg beim preußischen König Friedrich Wilhelm II. für den Schulneubau eingesetzt, und so gehörte er auch mit Recht zu den Ehrengästen bei der feierlichen Einweihung des Schulgebäudes, die am 24. November 1791 stattfand.
Im Jahre 1790 hätte aber schon das 425-jährige Bestehen der Neuruppiner Lateinschule festlich begangen werden können; denn in einem Häuser- und Straßenverzeichnis des Jahres 1365 wurde sie zum erstenmal erwähnt: Ein Bürger Arnt Coche wohnte "apud scholam", d. h. "bei der Schule". Das Schulgebäude lag in der damaligen Scharrenstraße in der Nähe der alten gotischen Pfarrkirche, also etwa zwischen der heutigen Schinkelstraße und dem Schinkeldenkmal. Mit Sicherheit ist aber der Ursprung dieser Schule schon wesentlich früher anzusetzen. Sie war eine städtische Institution, keine kirchliche, und wurde von den Söhnen wohlhabender Bürger besucht, die Lateinkenntnisse besitzen mussten, wenn sie zum Beispiel ein Studium der Rechtswissenschaft aufnehmen wollten, das ihnen "später als Ratsbetten oder Schöppen (Schöffen -H.E.) von Nutzen war" (Schultze). Außerdem bedienten sich bis ins 15. Jahrhundert bürgerliche Kaufleute in ihren Geschäftsbüchern noch des Lateins, und sowohl der Gottesdienst als auch das Urkundenwesen waren überwiegend lateinisch. Daher stand im Mittelpunkt des Unterrichts die Fertigkeit, Latein zu sprechen und zu schreiben, auch in der Christenlehre. Das blieb auch noch so nach der Reformation.
An der Ruppiner Schule wurde Griechisch als Unterrichtsgegenstand bereits 1491 eingeführt, während an vielen ähnlichen Schulen in Deutschland erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Luthers Aufforderung hin das Griechische und das Hebräische, die beiden Sprachen der Bibel, zum Lateinischen hinzukommen. Ein Jahrhundert später fanden unter dem Rektorat von Christian Rose (1633 - 67), der sich als bedeutender Dichter von sog. "Schulkomödien" in der deutschen Literaturgeschichte einen Namen gemacht hat, "die ersten Übungen in neuhochdeutscher Prosa, die wir von deutschen Schulen kennen" (Elß), an der Lateinschule in Neuruppin statt. Es ist nicht möglich, in dieser Darstellung auf viele wichtige Einzelheiten näher einzugehen.
Unbedingt erwähnt werden sollte jedoch das Wirken zweier Männer an der Ruppiner Schule, die von 1776 bis 1787 eine philanthropische Schulreform durchzusetzen versuchten: Julius Lieberkühn und Johann Stuve. Sie waren vom Bürgermeister Noeldechen nach Neuruppin gerufen worden und brachten völlig neue Gedanken und Unterrichtsmethoden mit, die aber nicht nur Anerkennung fanden, sondern auch auf Ablehnung stießen. Neben die gelehrte Bildung sollte die Bildung für das Leben treten, deshalb erhielt die Schule in ihrer Amtszeit den Status einer Bürger- und Gelehrtenschule. Obwohl im August 1780 der Minister Freiherr von Zedlitz die Schule besuchte, sich sehr zufrieden äußerte und die Ruppiner Schule in seinen Vorschlägen zur Verbesserung des Schulwesens eine der Musterschulen des preußischen Staates nannte, zeigte es sich doch, dass sie "als Bürgerschule zuviel bot, als Gelehrtenschule zuwenig verlangte" (Elß). Ruppiner Absolventen versagten in den Staatsprüfungen nicht nur an der theologischen, sondern auch an der juristischen und medizinischen Fakultät, weil ihnen Gewandtheit und Sicherheit beim Gebrauch der lateinischen Sprache fehlten." Sie konnten weder promovieren noch akademische Würden bekleiden, nicht als Theologen noch als Schulrektoren usw. auftreten" (Elß).
So trat nach dem Brand von 1787 im neuen Schulgebäude für die " civis aevi futuri" wieder das Latein in den Mittelpunkt des Unterrichts. Von 1792 bis 1812 trug die Schule den Namen "Friedrich-Wilhelm-Schule" zu Ehren des Nachfolgers Friedrichs des Großen, des preußischen Königs von 1786 bis 1797, Friedrich Wilhelms II. In dieser Zeit war auch der 1781 in Neuruppin geborene Karl Friedrich Schinkel bis 1794 ihr Schüler. 1799 wurde die Ruppiner Lateinschule zusammen mit sieben anderen der Provinz Brandenburg als Gelehrtenschule gekennzeichnet. 1809 wurde Wilhelm von Humboldt vom Freiherrn vom Stein dazu berufen, im Ministerium des Innern die Leitung der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht zu übernehmen. Nur ein Jahr blieb er in dieser Stellung, "aber alles, was auf dem Gebiet von Universität und höherer Schule geschah, entsprang seinem Geist" (Elß). 1810 wurde mit der Verordnung über die Vorbildung der Kandidaten des höheren Schulamtes die Trennung des Lehramtes vom Predigerstand vollzogen, der bis dahin zumeist die Lehrer gestellt hatte. Zwei Jahre später folgte dann das Edikt über die Neuordnung der 1788 schon einmal eingeführten Abiturientenprüfung und damit die Festsetzung der Unterrichtsziele. Alle Schulen, die das Recht hatten, diese Prüfung abzunehmen, hießen von da an amtlich Gymnasien. Und so wurde die Friedrich-Wilhelm-Schule 1812 zum Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, das bis zum Jahre 1937 bestand.
Friedrich Thormeyer war in der Übergangszeit - von 1805 bis 1834 - Rektor der Lateinschule beziehungsweise des Gymnasiums. Über ihn urteilten seine Schüler teils positiv, teils negativ. Auch Dr. Elß, der ihn in seiner Publikation im großen und ganzen lobte, konnte nicht umhin, einzugestehen, dass Thormeyer sich nur schwer an das Neue gewöhnen konnte, dass ihm die Forderungen der Regierung an die Leistungen der Schüler unsinnig, die Verfügungen widerspruchsvoll und die Beaufsichtigung lästig erschienen und er offensichtlich den Anforderungen der neuen Zeit mit zunehmendem Alter nicht mehr gewachsen war. So schrieb Dr. Elß: Thormeyer blieb "bis 1834 im Amt, zu lange für seinen Ruhm". Elß irrte, wenn er feststellte, dass Theodor Fontane "ein halbes Jahr hier die Quarta besucht" hat. In seinem Aufsatz im "Ruppiner Kreis-Kalender 1920" meint der gleiche Verfasser "Theodor blieb jedoch nur wenige Jahre hier", was, weil es sich auf Fontanes Besuch des Gymnasiums bezieht, ebenfalls nicht zutraf. Der 1819 in Neuruppin geborene Dichter war von Ostern 1832 bis zum Sommer 1833 Schüler des Gymnasiums (der Quarta und teilweise der Untertertia), und vielleicht hat er in dem Kapitel "Civibus aevi futuri" des Bandes "Die Grafschaft Ruppin" seiner "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" den alten Thormeyer in seinen letzten Dienstjahren doch im wesentlichen richtig charakterisiert.
Ganz anders urteilt Fontane im gleichen Kapitel über Thormeyers Nachfolger: Friedrich Starke (Schulleiter ab 1834, Direktor von 1836 bis 1864) und Wilhelm Schwartz (Direktor von 1864 bis 1872). Unter ihrer Leitung erlebte das Neuruppiner Gymnasium eine Blütezeit, was sich vielleicht auch durch die Schülerzahlen nachweisen lässt:
1855 waren es 267 Schüler (119 Einheimische, 148 Auswärtige),
1858 299 Schüler (121 Einheimische, 178 Auswärtige),
1864 319 Schüler (162 Einheimische, 157 Auswärtige),
1870 386 Schüler (162 Einheimische, 224 Auswärtige).
In der Folgezeit, vor allem im 20. Jahrhundert, verschoben sich die Relationen deutlich, so waren zum Beispiel von 208 Schülern im Jahre 1930 146 Einheimische und nur 62 Auswärtige.
Die Leistungen dieser und weiterer Direktoren der Schule stellte Dr. Hermann Elß, der selbst von 1905 bis 1924 Lehrer und von 1924 bis 1932 Direktor des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums war, in seiner 1939 als Festschrift des "Vereins ehemaliger Neuruppiner Gymnasiasten" erschienenen Geschichte des Gymnasiums dar, die vom Geist bzw. Ungeist der Entstehungszeit - verständlicherweise nicht unbeeinflusst geblieben ist. Mit dem Schuljahr 1937/1938 begann eine Schulreform der nationalsozialistischen Regierung für die höheren Schulen. Auf den Zeugnissen vom Herbst 1937 bis zum Sommer 1941 stand nun im sog. "Kopf": Friedrich-Wilhelm-Schule/Städtische Oberschule für Jungen/(Altsprachliches Gymnasium in Umwandlung). Die Schüler der Sexta (ab 1938: der ersten Klasse) lernten jetzt Englisch als erste Fremdsprache, nicht mehr Latein. Lateinunterricht begann ab 1939 erst in der dritten Klasse (der früheren Quarta). 1941 verschwand mit dem in Klammern stehenden Zusatz aus dem "Kopf" auch die Zeile für den " Religionsunterricht" aus den Zeugnissen.
Seit 1838 hatte es in Neuruppin auch eine höhere Schule für Mädchen gegeben (das Gymnasium war wie die Lateinschule ausschließlich männlichen Schülern vorbehalten). 1912 entstand dann - gewissermaßen als "Pendant" zum Gymnasium - ein Lyzeum in Neuruppin, das 1928 mit der Aufbauschule zusammengelegt wurde, und seit diesem Jahre führten beide Schulen unter einer Direktorin und mit einem Lehrerkollegium im Gebäude des früheren Lehrerseminars (der heutigen Pestalozzischule) als 'Oberrealschule in Aufbauform' den Namen "Fontaneschule". Die Oberschule für Mädchen (seit 1937) behielt ihren Namen auch nach 1945 trotz der Verlegung in das Gebäude der ehemaligen Mittelschule (der heutigen Schule des Friedens). Die Oberschule für Jungen verblieb im Gebäude des alten Gymnasiums und hieß nun Schillerschule. Als mit Beginn des Schuljahres 1950/51 die Zusammenlegung beider Schulen erfolgte, wurde diese Oberschule - nun für Jungen und Mädchen - die "Fontane-Oberschule" genannt und zu Beginn der 60-er Jahre "Fontaneschule (Erweiterte Oberschule)". Es lohnt kaum, heute noch über die sprachliche Unsinnigkeit nachzudenken, inwieweit Kinder der ersten Klasse schon eine Oberschule besuchten und ein Mädchen oder Junge mit dem 9. Schuljahr in eine erweiterte Oberschule kam. Mehr des Nachdenkens würdig ist wohl die Tatsache, dass der Name des bedeutenden deutschen Dichters Theodor Fontane bestimmten Partei- und Staatsfunktionären des Kreises nicht mehr passend erschien für die erweiterte Oberschule in der Kreisstadt, als 1970 ein Umzug in ein neues Gebäude erfolgte. Aller Widerstand von Lehrern und anderen Bürgern blieb erfolglos; die EOS musste den Namen Ernst Thälmanns tragen. Eine 10-klassige Schule durfte sich aber weiterhin Fontane-Oberschule nennen, auch nachdem sie das ehemalige Gymnasiumsgebäude wegen der Baufälligkeit zu räumen hatte. Vielleicht sollten die zuständigen Stellen einmal darüber nachdenken, ob man das zweihundert Jahre alte Bauwerk statt "Kultur- und Bildungszentrum" nicht besser "Altes Gymnasium " nennen sollte; im Volksmund wurde es immer so genannt, ebenso wie die frühere Friedrich-Wilhelm- und jetzige Karl-Marx-Straße für viele Bürger stets die "Große Straße" geblieben ist.
Seit 1991 gibt es in Neuruppin wieder ein Gymnasium, das provisorisch in der ehemaligen "Schule der DSF" an der Fehrbelliner Straße untergebracht ist. Wie es heißen wird, ist noch nicht entschieden. Aber es ist wieder eine Lehr- und Lernstätte geschaffen worden, die den "Civibus aevi futuri" das Rüstzeug für ihr weiteres Leben geben soll.
Horst Erdmann
Vorsitzender des Historischen Vereins der Grafschaft Ruppin e.V. (+)
Neuruppin 1939
Mitteilungsblatt Nr. 2 - Juli 1992, Seite 1 - 5